Donnergrollen
Frau F. lebt in einem Altenheim. Es ist Hochsommer, ein Gewitter naht, in der Ferne ertönt erstes Donnern. Frau F. schreckt auf und beginnt, so schnell sie kann, loszulaufen. Sie öffnet Türen, suchend und aufgeregt.
Auch Frau L. hört die Donnergeräusche. Sie war zuvor langsam im großen Raum umhergegangen, demenzkrank, in ihrer Welt versunken. Nun bleibt sie plötzlich stehen und verharrt wie eine Statue, unbeweglich an derselben Stelle. Als eine Altenpflegerin sie fragt: „Was ist denn los? Kann ich etwas für Sie tun?“, antwortet sie nicht, sondern schaut starr und flach atmend an der Mitarbeiterin vorbei. Als diese sie berührt, merkt sie, dass die Haut der alten Frau sehr kalt und von einem dünnen Schweißfilm bedeckt ist.
Die beiden Frauen hören keinen Donner, sondern Bombenabwürfe. Sie haben im letzten Kriegsjahr mehrere Bombardierungen im Ruhrgebiet erlebt und erlitten. Durch das Geräusch des Donners wird der Schrecken dieser Zeit wieder lebendig. Frau L. erstarrt, wird regungslos, während Frau F. das macht, was damals alle machten, die überleben wollten: Sie sucht nach einem Keller oder Luftschutzbunker, sie sucht Schutz.
Wie Frau F. und Frau L. geht es vielen alten Menschen.
Bei manchen sind es die Geräusche des Gewitters, bei anderen eine zuschlagende Tür oder eine Sirene – die Auslöser können verschieden sein, aber immer wird der Schrecken der Bombardierungen lebendig, der damals viele Menschen, Erwachsene wie Kinder, getroffen hat.
Eingesperrt
„Meine Frau hat eine Macke“, erzählt Herr S. „Immer öffnet sie die Türen und Fenster, wenn sie in einen Raum kommt. Ich kann sie noch so oft schließen, immer muss das Fenster wenigstens ein Spalt breit offen sein und immer stehen die Türen sperrangelweit offen. Was wir dadurch an Heizkosten ausgegeben haben in den letzten Jahren, mag ich mir gar nicht vorstellen. Früher war das nicht so, aber vor einigen Jahren ging das los und wird immer mehr. Ich verstehe das nicht.“
Frau S. lebte als Kind in Nürnberg und erlebte dort zwei Bombenangriffe; den ersten im Keller des eigenen Wohnhauses, das getroffen wurde und teilweise einstürzte. Sie bekam panische Angst eingeschlossen zu werden. Zum Glück stellte sich heraus, dass nur ein Teil des Hauses eingestürzt war und ein Ausgang leicht geöffnet werden konnte. Den zweiten Bombenangriff überstand sie in einem völlig überfüllten Luftschutzbunker. Hier hatte sie große Angst und wollte aus dem Bunker fliehen, wollte weg aus der Enge. Doch ihre Mutter ließ sie nicht gehen, verständlicherweise.
Danach wurde sie im Rahmen der so genannten Landverschickung zur Familie eines Bauern im Allgäu gebracht. Der Vater war Soldat, die Mutter musste in der Rüstungsindustrie arbeiten. Bei der Bauernfamilie gab es mehr zu essen als in der Stadt, worüber sie froh war. Doch sie vermisste ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, und ihr wurde es in dem Zimmer, in dem sie mit vier anderen Kindern schlief, oft zu eng. Also versuchte sie wegzulaufen, um wieder zurück nach Nürnberg zu gelangen – für eine Sechsjährige ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt war. Sie wurde wieder eingefangen und versuchte es erneut, wurde wieder eingefangen und zurückgebracht und schließlich eingesperrt.
Im zunehmenden Alter wurde ihr, die Zeit ihres Lebens sehr freisinnig und freiheitsliebend war, die zunehmende Enge zur Qual. Sie brauchte offene Fluchtwege, offene Türen, brauchte Verbindung nach draußen, die Fenster mussten geöffnet bleiben. Viele Menschen haben wie sie als Kinder Bombenangriffe miterleben müssen und viele wurden auf das Land geschickt, um vor den Bomben sicherer zu sein. Manche sind in der Angst erstarrt und die äußere Enge wurde in ihnen auch innerlich eng. Andere kämpften für ihre Freiheit, wollten aus der Einengung fliehen. Auch solche Bestrebungen sind im Gedächtnis des Körpers und der Sinne gespeichert und entfalten nach Jahren und Jahrzehnten ihre Wirkung.
Der Beitrag Bombennächte und Kinderlandverschickung – eingegraben in die Erinnerungen der Kinder von damals. erschien zuerst auf Alter und Würde.