Wenn pflegebedürftige Menschen in ihren Familien aggressiv oder sogar gewalttätig werden, dann werden solche Erfahrungen von den Angehörigen oft als besonders schmerzlich, kränkend und verletzend erlebt. Dieses besondere Ausmaß liegt sozusagen in der „Natur“ der Familienbindungen. Die lange gemeinsame Lebensgeschichte birgt in sich die große Chance, die Abschiedsphase eines gemeinsamen Lebens im liebevollen Miteinander geborgenen und würdigend zu verbringen. Und die besondere Nähe und Vertrautheit macht die Verletzlichkeit besonders groß und den seelischen Schmerz und die Kränkung besonders tief.
Wir wollen an dieser Stelle den feinen, eher unauffälligen Gesichtern der Gewalt Aufmerksamkeit schenken, dem, was das Herz der Pflegenden verletzt, einen Stich versetzt, was es verstört und die pflegenden Angehörigen manchmal zusätzlich zu der Lebensumstellung, die von ihnen verlangt ist, aus der Bahn wirft und oftmals verbittert. Die Aspekte, die in diesem Sinne als Gewalt, als oft übersehene „leise“ Gewalt und Beziehungsgewalt, erlebt werden, sollen hier „laut“ werden dürfen und Würdigung erfahren.
Beziehungsmuster, wie sie sich in den Pflegebeziehungen zwischen den Eheleuten oder zwischen den zwei Generationen, zwischen Eltern und Kindern, zeigen, sind oft nicht „neu“, sondern bestehen seit Anbeginn der Beziehung oder haben sich im Laufe der Beziehungsentwicklung eingespielt. Dass es diese eingespielten Muster gibt, ist nicht nur unabänderlich, sondern lebens- und beziehungsnotwendig und Grundlage des Zusammenlebens. Wenn Menschen nicht unter ihnen leiden, sind sie gewohnte, selbstverständliche und stabilisierende Faktoren der Beziehung, also auch der Pflegebeziehung. Oft aber werden in der aktuellen Pflegebeziehung wieder alte Muster „auf die Spitze getrieben“, werden Eigenheiten, Kränkungen, Be- und Verurteilungen, wird das Macht-, Abhängigkeits- und Bedrohungsverhältnis besonders klar und deutlich. Was mehr oder weniger heimlich und ungreifbar war, wird schmerzlich wahrgenommen und gespürt. Dabei geht es nicht darum, was von außen, von anderen Menschen, als „gewalttätiges“ oder „liebevolles“ Verhalten und Beziehungsmuster wahrgenommen wird (welches Kind schaut nicht mit kritischem Blick auf das Beziehungsmuster der Eltern, welcher Mensch nicht kritisch auf das anderer Ehe- und Lebenspartnerschaften), sondern um das Erleben der Beteiligten.
Da gab es in einer Familie immer schon Machtkämpfe zwischen den Eheleuten: Der Mann hatte immer klassischerweise „die Hosen an“ und bestimmte entscheidend über das Leben seiner Frau und seiner Kinder. Die Frau wiederum beugte sich seinem Willen, federte die Härten für die Kinder ab, versuchte, das Beste draus zu machen. Nun hat der alte Mann einen Schlaganfall und brüllt seine ebenso alte Frau, an, wenn sie nicht spurt. Dabei tut sie doch alles, um die Anforderungen des Alltags mit der Pflege ihres Mannes in Einklang zu bringen.
Da sie das ihr gemeinsames Eheleben lang so und nicht anders kennt, versteht sie zunächst nicht das Ausmaß ihres seelischen Schmerzes und Unglücks. Erst, als ihr ihre Tochter sagt, dass sie es kaum aushalten kann, wie „opferbereit“ sie sei und sich das bieten lasse, wird ihr sein ungerechtfertigtes, überforderndes und als lieblos empfundenes Verhalten, ihr Bedürfnis nach Anerkennung von Seiten ihres Mannes und ihr Gefühl der Unzulänglichkeit schmerzlich bewusst.
Es gab danach keine für Außenstehende sichtbare Veränderung an diesem Beziehungsmuster, wohl aber für die Tochter. Sie konnte spüren, dass ihre Mutter begann, ein klein wenig mehr ihre Arbeit als pflegende Angehörige und sich zu würdigen. Ab sofort hörte ihr Mann ab und zu mal den Satz, den er von ihr nicht kannte: „Immer mit der Ruhe. Eins nach dem anderen. Es wird nicht besser, wenn Du mich beschimpfst. Ich tue, was ich kann.“ Das half ihr, immer mal wieder Atem zu holen – und, mit der Unterstützung ihrer Tochter, auch Hilfe von Bekannten und professionellen Helfer/innen in Anspruch zu nehmen, auch wenn ihr Mann lautstark protestierte.
Die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau waren in dieser Familie schon immer sehr ausgeprägt gewesen. Durch die Abhängigkeitssituation in der Pflege begann der Mann seine Frau noch mehr zu erniedrigen, bis diese mit Hilfe ihrer Tochter dagegen halten konnte. Solchen Erniedrigungen begegnen wir häufig in unterschiedlichen Formen. Manchmal hören wir von pflegenden Kindern, dass ihre Pflegedienste von ihren Eltern bestenfalls als Selbstverständlichkeit, eher noch mit aggressiver Selbstverständlichkeit angesehen werden. Oft wird diese Haltung noch gepaart mit Ansprüchen an Dankbarkeit, die allein der Tatsache geschuldet ist, dass die jetzt Pflegenden einmal pflegebedürftige Kinder waren. Eine Tochter zum Beispiel pflegt ihre Mutter bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Sie erntet kein Lächeln, keine kleine Geste des Einverständnisses und Dankes, keinen zarten Händedruck, sondern wiederholt den lapidaren Satz, der sie sehr kränkt und mundtot macht: „Früher habe ich dir den Hintern sauber gemacht, heute musst du das eben für mich tun.“
Udo Baer, Gabriele Frick-Baer, Gitta Alandt: Wenn alte Menschen aggressiv werden Rat für Pflegende und Angehörige, BELTZ Verlag, ISBN: 978-3-407-85986-0
Der Beitrag Die übersehene Gewalt in den Familien Teil 1: Der Machtkampf und die Erniedrigung: „… du musst das für mich tun.“ erschien zuerst auf Alter und Würde.